Beitrag von Prof. Dr. Hans Maier

Anstelle eines Grußwortes zum Marsch für Märtyrer hat uns Prof. Dr. Hans Maier freundlicherweise folgenden Beitrag zur Verfügung gestellt:

Märtyrer und Martyrium im Leben der Kirche

Das griechische Wort martyrion bedeutet Zeugnis vor Gericht. Der es ablegt, heißt martys, der Zeuge. Im christlichen Verständnis handelt es sich freilich nicht einfach um ein beliebiges Zeugnis in einer beliebigen Sache. Vielmehr ist der martys Märtyrer ein Zeuge, bereit ist, mit seinem Zeugnis bis zum Äußersten, bis zum Opfer seines Lebens zu gehen - ohne dass er dieses Opfer leichtfertig riskiert oder gar sehnsüchtig danach strebt. Er wird zum Opfer, weil er eine Wahrheit bezeugt. Er geht für seinen Glauben in den Tod. Aus einem Zeugen wird er – wie das deutsche Wort anschaulich sagt - zu einem Blutzeugen. Dabei sind zwei Dinge entscheidend: einmal die von außen gesetzte, nicht selbstgeschaffene oder gar selbstprovozierte Verfolgungssituation – und sodann die Verbindung des Märtyrers mit Christus und mit der Kirche, welche die Legitimation für das Blutzeugnis schafft. Es handelt sich um ein „Martyrium gemäß dem Evangelium“, wie es in einer frühchristlichen Quelle, dem „Martyrium des Polykarp“, heißt. Welchen Tod der Märtyrer stirbt, wie die Umstände seines Martyriums im einzelnen beschaffen sind, welche Qualen ihm zugefügt werden, dies alles spielt dabei erst in zweiter Linie eine Rolle: entscheidend ist die aus dem Glauben erwachsende Bereitschaft zum Blutzeugnis in der Nachfolge Jesu, des „treuen Zeugen“ (Offb 1,5). Wie es Augustin ausdrückt: Christi martyrem non facit poena sed causa. Nicht „die Pein“, die ihm angetan wird, macht den Märtyrer, sondern „die Sache“, für die er steht und Zeugnis ablegt - eine Sache, die zugleich Ursache (causa) seiner Verfolgung von Seiten der „Feinde Christi“ ist.

 

Die neueren Sprachen haben den Märtyrerbegriff aus dem Lateinischen übernommen (das ihn wiederum aus dem Griechischen entlehnte). Im Deutschen ist er bis heute ein gebräuchliches Lehnwort. Dabei betonte das Deutsche weniger den alten Sinn der Zeugenschaft - es setzte vielmehr eigene Akzente, indem es das Leiden, die Qualen, das bittere Sterben des Opfers betonte.3In keiner anderen Sprache ist aus Martyrium zugleich das Wort für absichtlich und planmäßig zugefügtes Leiden („Marter“) abgeleitet worden. Wer im Deutschen Martyrium sagt, hört immer auch die Marter mit: der Märtyrer (martrer, mertrer) ist der Gemarterte schlechthin. Christus erstand vom Kreuzestod – er erstand, wie es im Lied heißt, „von der Marter allen“. Noch heute bezeichnet Marter südostdeutsch eine Tafel mit Kruzifix zur Erinnerung an einen Unglücksfall (üblicher das besonders im Süddeutschen weitverbreitete Diminutivum Marterl). Das Deutsche nimmt sich das Martyrium im Wortsinn „zu Herzen“, stellt es anrührend und mitleidend dar – freilich werden dabei Augustins Akzentsetzungen in die Gegenrichtung gekehrt: die Pein steht im Vordergrund, nicht mehr das Zeugnis (poena non causa).

 

Dass Martyrium, Marter, Märtyrer im Deutschen zum Krongut religiöser Sprache gehören, dass sie einen festumschriebenen eigenen Bedeutungskreis bilden, das hat dazu geführt, dass sie nicht, wie andere, in der Aufklärung und in der klassischen Literatur säkularisiert worden sind. Die Transformation ins Weltliche, Profane ging an ihnen vorüber, ohne Spuren zu hinterlassen. Vor allem das Wort Märtyrer erwies sich als säkularisierungs-resistent. Der Grund lag darin, dass die ältere Zeit – wie dargetan - die Verinnerlichung des Wortes schon vorweggenommen hatte. Auf der anderen Seite sperrte sich der Martyrerbegriff gerade wegen seiner Verbindung mit dem Sterben und der Betonung tödlich-schmerzlicher Gewalt gegen Umformungen ins Metaphorische und Symbolische.

 

Die zentrale Kraft des Märtyrers ist der Glaube – freilich ein Glaube, der mehr ist als bloßes „Fürwahrhalten“; ein Glaube, der „getan“ werden will und der nichts anderes ist als die Vollendung der bedingungslos liebenden Hingabe nach dem Beispiel Christi. Deshalb intervenierte Johannes Paul II. zurecht, als die Kurie im Heiligsprechungsverfahren für Maximilian Kolbe dem polnischen Franziskaner „nur“ den Status des Bekenners zuerkennen wollte (weil er, so lautete die Begründung, nicht „aus Hass auf den Glauben“ ermordet worden sei!); der Papst erreichte, dass der Tod Kolbes im Hungerbunker in Auschwitz (zur Rettung eines Familienvaters) als wirkliches „Martyrium“ bezeichnet und bestätigt wurde. Hinter diese Neuakzentuierung und „Auffüllung“ konnte und kann nun auch bei künftigen Kanonisationen von Märtyrern nicht mehr zurückgegangen werden – immer mehr tritt an die Stelle einer nur noetisch-intellektuellen Prüfung des Glaubens der Blick auf die „ganze Existenz“ des Zeugen.

 

Vor allem die Katholische Kirche hat aus der öffentlichen Bedeutung des Martyrerbegriffs, aus der stärkeren Betonung der Existenz des Zeugen und seiner freien Liebestat ihre Folgerungen gezogen. Die seit dem 18. Jahrhundert normierten, im 20. Jahrhundert ergänzten Märtyrer-Kriterien sind im Licht moderner Erfahrungen neu ausgelegt und aktualisiert worden. Was heißt das für das Phänomen des Martyriums? Gerät etwa die alte Bedingung ins Wanken, dass der Glaubenszeuge auf keinen Fall das Martyrium aktiv suchen oder gar herbeiführen darf? In der Zeit der frühen Christenverfolgungen gab es bekanntlich eine lebhafte Diskussion darüber, ob man sich zum Martyrium „drängen darf“. Das wird natürlich abgelehnt – aber ebenso gut bezeugt ist auch die Sehnsucht nach dem Martyrium und die Sorge vieler Zeugen, sie könnten dieses „Opfer der Liebe“ versäumen. So schrieb Ignatius von Antiochien als Gefangener auf dem Weg nach Rom an die römische Gemeinde: „Gestattet mir, Nachahmer des Leidens meines Gottes zu sein!“... „Gewährt mir nicht mehr, als Gott geopfert zu werden, solange noch ein Altar bereitsteht.“ Kehren solche Bitten und Wünsche in modernen Martyrien wieder? Weisen etwa die freiwillige Meldung Maximilian Kolbes in Auschwitz oder die Aufforderung Edith Steins in Echt ihre Schwester „Komm, wir gehen für unser Volk!“ in diese Richtung?

 

 

Festzuhalten ist, dass die große Schar der Märtyrer des 20. Jahrhunderts innerhalb der christlichen Kirchen zu einem vermehrten Nachdenken über Märtyrer und Martyrium, über Zeugenschaft und Lebensopfer in und mit Christus geführt hat. Die Thematik reicht in zentrale Fragen des Kirchenverständnisses hinein. Warum gibt es überhaupt Märtyrer? Was bedeuten Märtyrer für die Kirche? Ist das Martyrium ein charismatischer Ausnahmezustand für wenige einzelne - oder ist die Bereitschaft zum Martyrium im Christentum ein „Ernstfall“ für viele, wenn nicht gar für alle? Und was bedeutet dieser Ernstfall für die Gemeinden? Wie gedenken sie auf richtige und gültige Weise der Märtyrer in actu (Fürbitten) und in memoria (Gebete, Feste)? Wie wirkt sich das Gedenken an die Märtyrer im Aufbau des kirchlichen Lebens und seiner „regulären“ Strukturen aus, in Liturgie, Gebet, Predigt, Festkalender, Kirchenjahr?

 

Diese Fragen betreffen alle christlichen Kirchen - also die Orthodoxie, die Katholiken und die Kirchen der Reformation gemeinsam. Sie alle bemühen sich heute um die Pflege, Erneuerung, Revitalisierung eigener Märtyrer-Traditionen – und sie suchen zugleich den Austausch mit den Erfahrungen der anderen. Die unterschiedlichen Profile, die dabei sichtbar werden, müssen den Prozess wechselseitigen Lernens nicht stören - vorausgesetzt, die Gesamterscheinung der „großen Schar aus allen Völkern“ bleibt im Blick. Gegenwärtige und künftige Verfolgungen werden dem Martyrium als Prüfung und Probe christlichen Lebens gewiss weiterhin Aktualität verschaffen. Und so wird die ökumenische Perspektive einer „Märtyrerkirche“, welche die konfessionell Getrennten im Gedenken neu zusammenfügt, auch im 21. Jahrhundert nicht untergehen.