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Leonhard Roth

In einem Artikel über Leonhard Roth fasst Klemens Hogen-Ostländer seine Regergen in einer sehr interessanten Biografie zusammen. Es sind viele bisher unbekannte Tatsachen und Quellen eingeflossen.

Tod im Zwangsurlaub

Beide waren Dominikaner – der eine im 15., der andere im 20. Jahrhundert. Beide prangerten Missstände an – der eine den Sittenverfall in Gesellschaft und Kirche, der andere die Verharmlosung dessen, was im Nationalsozialismus geschehen war und gegen NSDAP-Mitglieder, die in der jungen Bundesrepublik immer noch in Amt und Würden waren. Beide wurden von den Herrschenden mit Kritik überzogen – der eine als „Häretiker, Schismatiker und Verächter des Heiligen Stuhls“(1), der andere als „lügenhaft, heuchlerisch und für die Volksgemeinschaft vollkommen wertlos“. (2.) Beide werden von kirchlichen Oberen von ihrer Wirkungsstätte abberufen. Der eine konnte seine Tätigkeit zwar andernorts fortsetzen und später zurückkehren, wurde dann aber hingerichtet. Der andere starb unter nie geklärten Umständen. Der eine, der Diakon Girolamo Sovonarola (1452 - 1498), war das geistliche Vorbild des anderen, Pater Leonhard Roth (1904 – 1960). Beiden wurde späte Rehabilitierung zuteil. Für Sovonarola leitete Papst Johannes Paul II. 1998 ein Seligsprechungsverfahren ein. Leonhard Roth wurde in Dachau 2004 gepriesen für hohe Intelligenz, exzellente Rednergabe, kämpferisches Naturell, unablässiges Streben nach Wahrheit und als Vater der KZ-Gedenkstätte, dem es wenigstens nach jahrelangem Kampf gelang, dass seine Oberen ein KZ-Mahnmal errichten ließen. (3)

„Guter Engel“

So jedenfalls würdigte das städtische Kulturamt Roth anlässlich der 100. Wiederkehr seiner Geburt, und ein Gedenkgottesdienst fand in der Stadtpfarrkirche St. Jakob statt. Kreisheimatpfleger Dr. Norbert Göttler stellte eine umfassende Roth-Biografie vor, und außerdem wurde eine Bilddokumentation über den Pater gezeigt. Die Oberpfalz-Medien, in deren Verbreitungsgebiet Roth ebenfalls seelsorgerisch tätig war, nannten ihn im selben Jahr einen „wunderbar geradlinigen Heiligen“. (4) Roth selbst wäre allerdings wohl der letzte gewesen, der sich so gesehen hätte. Aber auch in einem Beitrag auf der Internetseite des Erzbistums München wird er gewürdigt als „guter Engel“ im Wohnlager Dachau Ost der Heimatvertriebenen, der Staat und Kirche öffentlich der Untätigkeit wegen der Schaffung einer KZ-Gedenkstätte anklagte und sich deshalb Feinde auch bei seinen kirchlichen Vorgesetzten machte. Roth habe schon vor 60 Jahren getan, was heute Papst Franziskus fordert: sich der Verwundeten annehmen. (5)

Es war wohl unvermeidlich, dass Leonhard Roth wie Savonarola zum Zeichen wurde, dem widersprochen ward. Norbert Göttler hat sich beiden Dominikanern auch in einem Hörbild in zwölf Szenen genähert. Es zeigt durch zahlreiche tatsächliche Zitate beider Geistlicher manche Parallele zwischen ihnen auf, etwa das radikale Eintreten beider für ihre Ziele, so unterschiedlich die auch waren. Mehr als sechs Jahrzehnte nach Roths Tod sind sowohl nach dem Pater als auch nach dem Bürgermeister, der nach heftiger Kritik durch Roth zurücktrat, in Dachau Straßen benannt - die für den Geistlichen in unmittelbarer Nähe der KZ-Gedenkstätte, die andere in „sicherer“ Entfernung.

P. Korbinian Leonhard Roth

Leonhard Roth, geboren 1904 in Saldenburg im Bayerischen Wald in einer frommen katholischen Familie, besuchte ab 1915 das Missions-Seminar der Benediktinerabtei Schweiklberg (Niederbayern) und dann das Ordensgymnasium der Dominikaner in Vechta (Oldenburg). Nach dem Abitur trat er 1924 dem Orden bei und erhielt den Namen Korbinian. Der Einkleidung und dem Noviziat in Venlo folgten Studien in Walberberg und Düsseldorf. In der Kölner Klosterkirche Hl. Kreuz folgte 1931 die Priesterweihe. Neben der Seelsorge leitete Roth in Köln den Thomaskreis für Jungakademiker und hielt zahlreiche Vorträge und Predigten. 1935 wurde er zum Prior des Studienkonventes Walberberg gewählt. Durch seine Kritik am Nationalsozialismus geriet er zunehmend in Konflikt mit dem NS-System. (6)

Nachdem es der NSDAP nicht gelungen war, mit Strafprozessen wegen vermeintlicher Devisenvergehen das Ansehen der Kirche wesentlich zu schädigen, wurden ab 1935 so genannte „Sittlichkeitsprozesse“ gegen Ordensangehörige und Weltpriester wegen angeblicher verbotener sexueller Handlungen geführt. Auch der Prozess gegen Leonhard Roth war eingefädelt, um ihn zum Schweigen zu bringen. Zu diesem Urteil kam Franz Pawelka, Mitglied des Vereins „Zum Beispiel Dachau“. Liebesbriefe Roths an eine Prostituierte und einen „Strichjungen“ begründeten demnach die Anklage (7). Zur Verfolgung des Paters dürfte seine im Urteil erwähnte Prominenz als „bedeutendster Kanzelredner Deutschlands“ beigetragen haben. Ob sein ebenfalls zum Priester geweihter Bruder Joseph dabei die Fäden gezogen hat, ist nicht zu belegen. Joseph Roth wandelte sich schon in den frühen 30er Jahren zum überzeugten Nationalsozialisten, wurde Religionslehrer an einer Eliteschule des Regimes, einer Nationalpolitischen Erziehungsanstalt oder Napola, und stieg danach im Reichskirchenministerium zum Ministerialdirigenten auf. 1941 ertrank er bei einer Bootsfahrt. (8)

Flucht in die Schweiz und Auslieferung

Der Pater bekannte, die Briefe tatsächlich geschrieben zu haben, aber weil er erpresst wurde. „Zufallsbekannte“ hätten ihn eingeladen, mit ihnen daheim zu diskutieren. An Ort und Stelle habe er erkannt, dass er in ein Bordell gelockt worden war. (9) Norbert Göttler kommt in seiner Biografie zu dem Schluss, was sich damals wirklich abgespielt hat, sei kaum mehr exakt zu rekonstruieren. Roth floh jedenfalls vor der drohenden Verhaftung in die Schweiz und teilte seinem Orden schriftlich mit, er sei in eine Falle gelockt worden. Göttler weist aber darauf hin, dass der Pater gegenüber der Schweizer Polizei 1940 erklärte, er sei nicht nur wegen seiner politischen Einstellung, sondern auch wegen eines homosexuellen Vergehens geflohen.

Im Jahr zuvor hatte er das gegenüber dem Bischof von Solothurn eingeräumt, seine Unwürdigkeit bekannt und diese Neigung als lediglich vorübergehend und Ding der Vergangenheit bezeichnet. Im Exil blieb der Pater vier Jahre lang unbehelligt. 1941 wies ihn die Schweizer Bundesanwaltschaft allerdings aus, unter anderem wegen „Verächtlichmachung des Gastlandes“. Roth hatte den Glaubensverlust in der Schweiz beklagt.(8) 1937 war er in Deutschland in Abwesenheit zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt worden. In Rottenburg verbüßte er sie nun. Pater Korbinian war von den Dominikanern aus dem Orden entlassen worden (1945 bemühte er sich um die Rückkehr, musste aber zwei Jahre warten, bis ihm das gewährt wurde). (8)  Nach dem Ende der Haft wurde er als dem Regime unliebsamer Priester nicht freigelassen, sondern, wie damals in vielen Fällen „üblich“, im Mai 1943 ins KZ Dachau eingewiesen. Dort gewann Leonhard Roth mit seiner christlichen Haltung bald die Hochachtung der Mithäftlinge. Der politische Gefangene Reimund Schnabel schrieb später: „Was Leo Roth im Lager geleistet hat, kann man nur als heldenhaft bezeichnen. Dieser katholische Priester verzehrte sich selbst im Dienst am Nächsten... Tag und Nacht war er in den Seuchenbaracken, bettete die Kranken, wusch sie, sprach mit ihnen, betete mit ihnen. Dieser Mann hat wahrhaft Übermenschliches geleistet. Er war immer und überall dort zu finden, wo die Not am größten gewesen ist“.(10)

Freiwillig Typhuskranke gepflegt

Im Februar 1945 meldete Leonhard Roth sich mit 34 Anderen freiwillig zur Pflege der Todkranken, als im KZ-Fleckfieber, auch Bauchtyphus genannt, ausbrach. 10 von ihnen starben, darunter die 5 Seligen: Stefan Wincenty Frelichowski, P. Richard Henkes, P. Engelmar Unzeitig, P. Hilary Januszewski und Br. Józef Zapłata.(22) Der Pater harrte auch bei den rund 7000 Schwerkranken aus, nachdem die US-Armee das KZ Ende April 1945 befreit hatte.(6) Fast sofort bekam er auch eine weitere Aufgabe. Die Amerikaner internierten die SS-Wächter des Lagers und anderer KZ sowie weitere NS-Angeklagte in Dachau auf dem Gelände des befreiten KZ Dachau. In fast 500 Prozessen wurden knapp 1700 Männer angeklagt. Die Verurteilten verbüßten ihre Haftstrafen in Landsberg. 268 von ihnen wurden dort hingerichtet.(11) Leonhard Roth wurde ihrer aller Seelsorger in Dachau – auch der seiner ehemaligen Peiniger. Die Kuratie Heilig Kreuz wurde gebildet. Kurat Roth baute gemeinsam mit den Internierten auf dem Appellplatz des früheres KZ Dachau die erste Heilig-Kreuz-Kirche Kirche Dachaus aus Holz.  Nach anfänglicher Ablehnung gewann er allmählich Vertrauen und schaffte es, mehr als 1300 Gefangene in die Kirche zurückzuführen. Bei einigen wurde er sogar Firmpate. Der Münchener Kardinal Faulhaber persönlich hatte ihm diese Seelsorge übertragen und zollte ihm später höchste Anerkennung dafür.(12)

Nach zweieinhalb Jahren bat Roth seinen Provinzial, wegen gesundheitlicher Probleme die Lagerseelsorge beenden zu dürfen. Kardinal Faulhaber unterstützte das. Der Kurat ging für drei Monate in ein Sanatorium, wo ihm schwerste Erschöpfungszustände und eine fortgeschrittene Herzmuskelschädigung attestiert wurden.

Unverstanden

Obwohl Leonhard Roth sich über seine Unvollkommenheiten im Klaren war, lässt eine seiner Predigten von 1936 oder 1937 eins erkennen: Der Pater war sich bewusst, dass auch viele Heilige mit ähnlichen Wesenszügen wie er argwöhnisch beurteilt wurden: „Christus wurde allgemein missverstanden... Seither geht es jedem treuen Diener Christi ebenso. Die Geschichte des Christentums weiß um zwei Tatsachen: Erstens: Die Heiligen sind regelmäßig die Unverstandenen. In der eigenen Front, bei den Christen, sind sie unverstanden. Weil sie wahr sind, weil sie echt sind, weil sie die gerade Straße gehen, weil sie konsequent die Bergpredigt Christi leben wie Christus, darum rückt man von ihnen ab und klagt sie der Überspanntheit oder der Hysterie und Engherzigkeit an. Die Halben kommen nie zu einem Verständnis der Ganzen“.(8) Jahre später sagte er einem britischen Journalisten, dem er wegen eines kirchlichen Verbots ein Interview verweigerte: „Es gibt viele in einflussreichen Stellungen, die mich gerne mundtot gemacht sähen“. Nach der Kur war Roth für ein Jahr Kaplan in der Münchener Pfarrei St. Andreas, ehe er 1949 wieder nach Dachau ins Lager zurückkehrte. (2) 

Nach dem Ende der „Dachauer Prozesse“ räumten die Amerikaner das einstige KZ. Mit einer Investition von offiziell 4,5 Millionen Mark (nach Roths eigener Einschätzung sechs bis sieben Millionen)(9) wurden die allmählich baufällig werdenden Folterbaracken 1949 zur Bleibe für Heimatvertriebene und Ostflüchtlinge umgebaut. Das war damals eine gewaltige Summe. Ein junger Regierungsamtmann in einem Ministerium verdiente beispielsweise 1949 einschließlich Zulagen exakt 2.000,08 DM brutto – nicht etwa im Monat, sondern im Jahr.(13) Der Umbau widersprach Leonhard Roths Ziel, das Lager in einen Weihe- und Wallfahrtsort mit ausgesprochenem Sühnecharakter umzuwandeln. 1949 wusste er noch nicht, dass einmal neben dem Krematorium, in dem die Körper zehntausender Häftlinge eingeäschert worden waren, eine Gaststätte mit dem Namen „Zum Krematorium“ entstehen würde. 1956 brandmarkte Roth es als himmelschreienden Skandal, „dass in den ehemaligen Leidens-Baracken des KZ nunmehr Bierwirtschaften und Vergnügungslokale eingerichtet sind“.(2) (Zum Lager der sog. „Ostflüchtlinge“ gehörte auch entsprechende Infrastruktur wie Läden und eine Gastwirtschaft) Roth zürnte, mit dem Geld hätte man an anderer Stelle ein vollkommen neues Barackenlager auf neutralem Boden bauen und das Gelände des ehemaligen KZ Dachau für eine Gedenkstätte nutzen können. Aber er betreute dennoch auch die Menschen, die in den früheren Häftlingsunterkünften wohnten, forderte für sie in Protestversammlungen für bessere Unterkunftsbedingungen und Verpflegung zu kämpfen. Eine von ihm begonnene Wohnungsbauinitiative wurde sogar durch die Bayerische Landesregierung mit Finanzhilfen gefördert als Soziale Gemeinnützige Wohnungsgenossenschaft. Vor den Toren des Lagers entstand durch Roths Initiative die Wohnsiedlung Dachau-Ost. Roth engagierte sich auch für ein Gotteshaus in der entstehenden Wohnsiedlung und gründete die heutige Pfarrei Heilig Kreuz in Dachau.

Kampf um würdiges Gedenken

Die anspruchsvolle Seelsorgetätigkeit und die damit verbundenen Kämpfe zehrten an Leonhard Roths Kräften und verbrauchten diese weiter. 1952 war er (nicht ganz freiwillig) aus dem Dominikanerorden ausgeschlossen und gehörte seitdem zum Münchener Diözesanklerus. Zwischen 1953 und 1957 bat er das Erzbischöfliche Ordinariat dreimal um Enthebung von der Lagerseelsorge. KZ-Haft und Seelsorge im Internierungslager und Flüchtlingslager hätten seine ganzen Kraftreserven nun vollends aufgerieben, klagte er. Und eine vierte Belastung war hinzugekommen: Der Kampf um die Schaffung einer würdigen KZ-Gedenkstätte.(6) 1945 hatte bereits ein Planungswettbewerb für eine doppeltürmige Sühnekirche in Dachau stattgefunden. Die Höhe der mit Zwiebelhauben geschmückten beiden Türme kann man im Originalplan an den winzigen Menschenfiguren am Eingangsportal abmessen. Sie wären mit 80 Metern weitaus höher geworden als der 44-Meter-Turm der Dachauer Stadtpfarrkirche und hätte bis in die Schallöffnungen der Glocken in der Münchener Frauenkirche gereicht. Ein neben dem Kirchenschiff liegender Kuppelbau sollte der ewigen Anbetung des Allerheiligsten Altarssakraments dienen.(14)

Stadtpfarrer Friedrich Pfanzelt kündigte den Bau schon wenige Tage nach Kriegsende in einer Predigt vor ehemaligen KZ-Häftlingen an. Er sagte: „Ich schwöre bei meiner Priesterehre, dass wir Dachauer nichts wussten von den furchtbaren Verbrechen im K.L. [Diese Aussage ist anzuzweifeln, Anm. der Redaktion, vielleicht nicht im vollen Ausmaß der pseudomedizinischen Versuche und anderer Gräuel]

Damit die Erinnerung daran in Dachau nicht erlischt, soll eine Sühnekirche errichtet werden“.(15) Mit Kardinal Faulhaber hatte er schon vorher bei einem Besuch in München über das Vorhaben gesprochen. Faulhaber notierte am 10. Mai 1945, an dem zum ersten Mal wieder offizieller Feiertag (Christi Himmelfahrt) war, in seinem Tagebuch: „14.00 Uhr Pfanzelt von Dachau - berichtet, wie es dort ging, bleibt zu Tisch, abends und über Nacht im Haus - in Dachau eine Sühnekirche?“.(16) Faulhaber sprach jedenfalls den Militärgouverneur der amerikanischen Besatzungszone, Dwight D. Eisenhower, auf das Thema an. Der lehnte allerdings ab. Die Amerikaner hatten andere Pläne mit dem Lager.(17) 1952 starb der Kardinal, und mit ihm jeder Gedanke an die große Sühnekirche, die auch Leonhard Roth vorgeschwebt hatte. Friedrich Pfanzelt unterstützte das Vorhaben nicht mehr. Mit zunehmender Verbitterung beobachtete der Pater, dass weder in Bonn noch in München Anstrengungen unternommen wurden, das Gelände des ehemaligen KZ in eine Gedenkstätte umzuwandeln. Er forderte, das Lager müsse im ursprünglichen Zustand erhalten bleiben und nicht durch ein bloßes Mahnmal ersetzt werden. Der Kurat protestierte, als der Dachauer Bürgermeister Hans Zauner 1959 die von den Flüchtlingen geräumten Baracken des Lagers mit neuen Wohnungssuchenden neu belegte.

Druck aus dem Ausland

Im Januar 1960 machte Leonhard Roth einen letzten Versuch für die Errichtung einer würdigen Gedenkstätte. Das Besatzungsrecht der amerikanischen Befreier gab es nicht mehr. Der Kurat schrieb an den Münchner Weihbischof Johannes Neuhäusler, der selbst auch Häftling im KZ Dachau war, allerdings nicht im Priesterblock, sondern im sog. Ehrenbunker unter besseren Verhältnissen:

„So oft Sie hier waren, sprachen Sie immer von einer kleinen KZ-Gedächtniskapelle. Ich bin darüber jedes Mal erschrocken, wollte aber zunächst nichts äußern, sondern nochmals und nochmals überlegen“. Der „Größe und Erhabenheit dessen, woran erinnert werden soll“, werde eine kleine Kapelle nicht gerecht.

Das KZ sei ein Ort heiligster Martyrien des Bekenntnisses und der Buße. Es bedürfe einer imposanten, nicht prunkvollen, aber künstlerisch erstklassigen Kirche, und zwar auch nicht zu Ehren der Todesangst Christi, wie Neuhäusler eine von ihm geplante Kapelle nennen wollte, sondern zu Ehren Christi, des Königs der Märtyrer. (12) Der Bischof ging nicht auf Roths Vorschlag ein, was diesen in einem weiteren Brief deutlich werden ließ:

„Ihr Antwortschreiben, Eminenz, entrüstet mich. Sie haben also, obwohl sie selbst als „KZler“ in Dachau gelitten haben, keinerlei Interesse an der Gestaltung einer christlichen Gedenkstätte in Dachau! Auf meinen Vorschlag wegen der KZ-Gedenkstätte sind Sie überhaupt nicht eingegangen!“ 

Mit seinem Vorgesetzten lag Roth über Kreuz. In einem undatierten Predigtmanuskript hielt er den Grund fest:

„Oh Kirche, werde wieder selber arm wie der arme Christus... lege ab die Gewänder aus Purpur und Seide... Kirche, bekehre dich von der äußeren Macht zur inneren Einfachheit“. Das ist nicht weit entfernt von Savonarolas Vorwurf, wenn die Macht der Kirche die Guten verfolgt und das christliche Leben zerrüttet, „dann ist sie keine Kirchengewalt, sondern Teufelsgewalt“.(2) Dass anlässlich des Eucharistischen Weltkongresses 1960 in München auf Neuhäuslers Initiative 1960 zumindest die Todesangst-Christi-Kapelle entstand, war nach der Überzeugung des US-Historikers  Harold Marcuse, vor allem jahrelangem Druck aus dem Ausland und Vorwürfen der Apathie und Obstruktion gegenüber deutschen Behörden und der Kirche zu verdanken.(8)

Leonhard Roth hielt dem amtierenden Dachauer Bürgermeister, Träger des Bundesverdienstkreuzes und des Goldenen Ehrenrings der Stadt Dachau,(18) seine Vergangenheit als NSDAP-Stadtrat und rechte Hand des NS-Bürgermeisters vor.

Zum Eklat kam es, als der Bürgermeister von einem britischen Journalisten nach einem Interview mit den Worten zitiert wurde, im KZ seien nicht nur Helden gestorben. Viele Gefangene hätten illegale Opposition gegen das Regime betrieben. Zauner bestritt diese Äußerungen, und nach einer öffentlichen Versammlung, zu der ehemalige Dachauer Häftlinge im März 1960 eingeladen hatten, lösten die Vorwürfe gegen ihn in der Lokalpresse und in der Bevölkerung einen Sturm der Entrüstung gegen Roth aus.(2) Leonhard Roth schrieb einem Freund: „Die Protestversammlung vom 18.3. in Dachau hat mir das Genick gebrochen. Der ganze Hass der Dachauer Bürger hat sich gegen mich gewandt. Sie haben meine Entlassung verlangt … (9) Roths Ahnung, aus Dachau abberufen zu werden, trog nicht. Es sollte ihm gehen wie Girolamo Savonorola auf, der 1498 schrieb: „Als ich nun fortfuhr, so zu predigen, mahnten mich viele, über solche Dinge nicht mehr zu reden, da ich sonst aus der Stadt verbannt würde“. (2) Auch den Dachauer Bürgermeister traf 1960 allerdings anhaltende Kritik. Er trat deshalb am 1. Mai von seinem Amt zurück.(8)  

Zwangsurlaub

Sechs Tage nach der Versammlung wurde Kurat Roth buchstäblich von heute auf morgen entgegen seinem ausdrücklichen Willen, für drei Monate in den Zwangsurlaub geschickt. Er durfte sich von niemandem aus seiner Gemeinde verabschieden. Weihbischof Neuhäusler begründete die Abberufung später damit, es sei vor allem zur Wiederherstellung von Roths Gesundheit, besonders seiner zerrütteten Nerven, geschehen. Das Schweigegebot sei ihm auferlegt worden, „um sich und den Kirchenbesuchern die Aufregung einer Abschiedsfeier zu ersparen“(2). Das sah Roth aber anders. Er vermutete, nach den drei Monaten gehe es wohl auf einen „Strafposten“ und fügte hinzu: „Tut aber nichts! Es muss jeder nach seinem Gewissen vorgehen“. Nach zwei Tagen Aufschub, den man ihm gewährte, verließ der Kurat Dachau. Niemand, der ihn kannte, wusste, wo er war.

Die wohl letzte Nacht seines Lebens hat Leonhard Roth vom 21. auf den 22. Juni 1960 im Gasthof Müller in Landeck in Tirol verbracht. Dort schrieb er um 4.10 Uhr einen kurzen Brief an seine geistliche Mutter, Rösli Hirtler in Luzern (Unterstreichungen vom Schreiber): „Unten, wo die Menschen ihre willkürliche Zivilisation betreiben, ist Schmutz, Unordnung, Wirrwarr. - Hier oben, wo Gott einem endlich wieder nahekommt, ist Reinheit, Klarheit – Offenbarung.  Am liebsten möchte man sich hier oben umlegen u. in den Armen Gottes der Liebe sterben. Denn hier in der erhabenen Natur offenbart sich Gott noch als der, was er ist: Liebe Herzlich Dein Leonh.“(12)

Auch in dieser Todessehnsucht konnte sich der Pater seinem geistlichen Vorbild nahe fühlen. Savonarola schrieb als „armseliges Mönchlein“ in späten Jahren „Nichts Lieberes könnte mir begegnen, als wenn du mich zu dir beriefest...“ (2)

Die sterblichen Überreste des Geistlichen, der seit dem 22. Juni als vermisst gegolten hatte, wurden am 15. August 50 Kilometer von Landeck entfernt, auf 1400 Metern Höhe unterhalb des Kars der Zwölferspitze in den Klostertaler Alpen in Vorarlberg entdeckt. Der Körper lag auf dem Rücken auf zwei Pullover und einen Rock gebettet.  Auf einen Zettel hatte der Pater seinen Namen und die Bitte geschrieben, dass „im Falle meines etwaigen Todes“ seine Wirtschafterin in Dachau verständigt werde. Spätabends am 22. lebte Roth offensichtlich noch, denn in sein Notizbuch schrieb er: „Noch strahlt die Abendsonne über die Berge. Bald ist es Nacht“. Die Eintragung endet mit diesen Worten: „Es ist ein weiter Weg von der Anklage anderer zur Selbstanklage. Dies ist bitter, endet aber in jener Selbstdemütigung, deren Erfolg das Vernichtetsein ist“.(8) Das österreichische Innenministerium teilte nach der Obduktion mit, der Pater sei am 22. Juni wahrscheinlich freiwillig aus dem Leben geschieden. Roths Bruder Heinrich bezweifelte das. Ein Freitod habe für Leonhard Roth außer aller Frage gestanden.  Zwar wurden mehrere Röhrchen des Medikaments Adalin gefunden, das Roth gegen seine Schlafstörungen nahm. Aber fast alle waren voll. Leere Behälter wurden nicht entdeckt. Gerüchte entstanden, der Pater sei ermordet worden, aber dafür werden keine Beweise entdeckt. (2) Leonhard Roth wurde am 19. August wunschgemäß im nahegelegenen Braz unter großer Anteilnahme einer angereisten Gruppe aus Dachau beigesetzt. Wilhelm Holzapfel, ein ehemaliger Angehöriger der Waffen-SS aus dem Internierungslager, der als Organist und Chorleiter mit Roth zusammenarbeitete, sagte später über den Pater: „Für mich ist er ein Heiliger, und so lebt er in mir fort“.

Mutter Kirche?

Anfang 1962 brachte der Spiegel einen Bericht über Roths Ende und rügte darin, dass Weihbischof Neuhäusler seinem einstigen Mithäftling posthum nachgesagt hatte, er sei nicht aus politischen Motiven, sondern wegen sittlicher Verfehlungen ins KZ gekommen. Die Akten des Prozesses zeigten eine objektive Behandlung Roths. Der Ton des Berichts legt nahe, dass dem Nachrichtenmagazin ein Veröffentlichungsverbot zugespielt worden war, dass der Weihbischof der katholischen Presse erteilt hatte. (19, 20).

Als Roths eigenen Nachruf könnte man Passagen aus einem unvollendeten Kreuzweg bezeichnen, den er während seines Zwangsurlaubs in Locarno verfasst hatte. Unter der 4.Station „Deine liebe Mutter ist Dir auf dem Kreuzweg begegnet“ schrieb Roth unter anderem: „Man sagt, die Kirche sei wie eine Mutter. Aber indem ich ihr auf dem Kreuzweg begegne, empfinde ich eine solche Begegnung nicht erleichternd, sondern erschwerend... Diese, ´Mutter Kirche` hat mir kein Wort der Liebe in meine Existenz hineingesprochen. Sie ging an mir vorüber, und da ward mir die Existenz noch schwerer... Könnte ich doch in dieser Mutter Kirche eine Abgesandte der Liebe Gottes sehen – o, dann ginge es, Herr. Ich bitte Dich um das innere Ja zur Kirche als Mutter, die mir den Gott der Liebe in die Existenz hineingebärt! Amen“.(21)

Der Priester und Journalist Adolf Fugel, die mehrere Bücher über Leonhard Roth veröffentlicht hat, kam hinsichtlich des Motivs für die plötzliche Abberufung aus Dachau zu diesem Schluss: „Eines war es sicher nicht, nämlich die mütterliche Umarmung kirchlicher Hierarchen gegenüber einem im Kampf um den Neuaufbau und die Neuorientierung der Kirche stehenden Priester“.

 

(1) Gundolf Gieraths:  Savonarola - Ketzer oder Heiliger? Herder Verlag, Freiburg, 1961

(2) Noch strahlt die Abendsonne über die Berge, in Norbert Göttler: Bayerische Schicksale auf der Bühne, Allitera Verlag, München, 2016

(3) Der 100. Geburtstag von Pater Leonhard Roth. Dachauer Symposium zur Zeitgeschichte, Memento des Originals im Internet Archive Way back Machine, abgerufen am 7.3.2023

(4) Pater Leonhard Roth wäre heute 100 Jahre alt geworden - Auf den Bergfesten gepredigt: Wunderbar gradliniger Heiliger. Oberpfalz-Medien, 28.05.2004, abgerufen am 7.3.2023)

 (5) Kreuzschnabel. Pfarrbrief der Gemeinde Heilig Kreuz, Dachau, Jubiläumsausgabe April 2014. Abgerufen auf der Internetseite des Erzbistums München am 13.3.2023

(6)  Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, Verlag Traugott Bautz, abgerufen am 9.3.2023

(7) Süddeutsche Zeitung vom 1.10.2001, Memento des Originals im Internet Archive Way back Machine, abgerufen am 9.3.2023

(8) Die Akte Pater Leonhard Roth. Norbert Göttler, Band 6 der Schriftenreihe des Vereins „Zum Beispiel Dachau – Arbeitsgemeinschaft zur Erforschung der Dachauer Zeitgeschichte“.

(9)  Übersetzt aus: Harold Marcuse: Legacies of Dachau. The Uses and Abuses of a Concentration Camp, 1933 – 2001. Cambridge University Press, 2001.

(10) Korbinian Leonhard Roth, Veröffentlichung der Gedenkstätte des Konzentrationslagers Dachau von Hans-Günter Richardi, abgerufen am 10.3.2023.

(11)  The Dachau Trials – Trials by U.S. Army Courts in Europe 1945 – 1948, in: jur.uva.nl.Universität von Amsterdam, abgerufen am 1.3.2023.

(12) Beiträge zum 70. Jahrestag der Befreiung des KZ Dachau, Band 1, Adolf Fugel, Fromm Verlag, Saarbrücken

(13) Beamte – (Bund) – Archiv – 1948 -Öffentlicher-Dienst.info Besoldungsrechner Besoldungstabellen A, B und C gültig 01.07.1948 bis 30.09.1950, abgerufen am 9.3.2023

(14) Lagerkirchen auf dem Gelände der heutigen KZ-Gedenkstätte, in Hans Schertl: Kirchen und Kapellen im Dachauer Land, abgerufen am 9.3.2023

(15) Das Gedächtnis der Dinge. KZ-Relikte und KZ-Denkmäler 1945 – 1995. Detlef Hoffmann (Hg)., Campus Verlag, Frankfurt New York, 1998

(16) Faulhaber. Kritische Online-Edition der Tagebücher.

(17) Freiburger Nachrichten vom 6.4.1963, abgerufen am 30.3.2024 (Tageszeitung aus Freiburg in der Schweiz).

(18) Markus Erhorn: Gesellschaft, Kultur und Politik der 1950er Jahre in der Stadt Dachau, abgerufen am 12.3.2023

(19) Schwarzer Winkel, Der Spiegel 7/1962, abgerufen am 3.3.2023 (war 14)

(20) Korbinian Leonhard Roth OP (1904 – 1960) und die „Sittlichkeitsprozesse“ gegen Priester und Ordensleute in der NS-Zeit. P. Dr. Paulus Engelhardt OP, Dominikanerkonvent Albertus Magnus, Braunschweig, abgerufen am 9.3.2023 war 15

(21) Gebete, Predigten, Ansprachen. Adolf Fugel (Hrsg.) Leonhard Roth Fromm Verlag, Saarbrücken war 16

(22) https://www.selige-kzdachau.de/index.php/infos/neuigkeiten/2020/geistliche-in-typhusbaracken

 

 

 

 

Beachtenswerte Artikel

In den letzten Jahren wurden unter Neuigkeiten auf dieser Internetseite einige Artikel veröffentlicht, die wert sind nachgelesen zu werden. Ergänzend weisen wir auf unsere aktuelle Warum-Fragen Reihe hin und auf interessante Interviews.

Viel Spaß beim Lesen!

Hier eine Übersicht zum besseren Auffinden aufgelistet, in chronologischer Reihenfolge

 

2023

Französische Geistliche im Todeszug Link

Todesangst-Christi-Kapelle eine Sühnekirche? Link

Das Geheimnis von Dachau? Link

Privilegien der Geistlichen im KZ Dachau? Oder warum sind Privilegien weniger wichtig? Link

Der selige Stefan Wincenty Frelichowski, Worte zum Frieden, neu übersetzte Originalzitate Link

Biografie über Pfarrer Jean Daligault, Geistlicher und Künstler, ermordet im KZ Dachau Link

Die Todesangst-Christi-Kapelle: Geschichte und Bedeutung Link

 

2022

Liturgische Texte zum 27.07. - zur Feier des heiligen P. Titus Brandsma Link

Unsere Liebe Frau von Dachau Link

Der Heilige Titus Brandsma und Wikipedia Link

Novene zum heiligen P. Titus Brandsma Link

Gedanken zum Holocaust-Gedenktag 2022, wie konnte so etwas geschehen? Link

Das Logo des Vereins Selige Märtyrer von Dachau e.V., Bedeutung und Deutung Link

 

2021

Bald neue 50 Selige? Seligsprechungsverfahren für weitere polnische Märtyrer Link

Lieblingszitate Link

 

2020

Gebetserhörungen Link

Geistliche freiwillig in Typhusbaracken im KZ Dachau 1945, neue Forschungsergebnisse Link

 

2019

Suche nach Daten von KZ-Geistlichen Link

Josef Beran- Biografie Link

Adolf Kajpr, Biografie Link

Gräber polnischer Seliger in München Link

Der Dachaumärtyrer Pfarrer August Froehlich, Biografie Link

Hans Köchl, Helfer der KZ-Häftlinge Link

Kirche und NS,  Artikel von Klemens Hogen-Ostlender Link

Das Wirtschaftssystem der SS, Artikel von Klemens Hogen-Ostlender Link

 

Warum-Fragen, Serie 2023

Warum-Fragen 1

Warum wurde die Opfergruppe der Geistlichen und der Märtyrer unter den Geistlichen und Laien, besonders des Heiligen P. Titus Brandsma und der Seligen Märtyrer von Dachau bisher so selten genannt, warum ist diese Opfergruppe so wichtig für die ganze Gedenkstätte? Link

Warum-Fragen 2

Unbeantwortete Fragen Link

Warum-Fragen 3

Warum werden anderswo die Namen der Opfer aufgeführt, im KZ Dachau dagegen nicht? Warum sind die Geistlichen so wichtig? Link

Warum-Fragen 4

Warum sind die Namen der Geistlichen aus dem Priesterblock nicht in der Gedenkstätte des KZ Dachau zu finden? Link

Warum-Fragen 5

Warum wird die Gruppe der Geistlichen im KZ Dachau oft nicht als Opfergruppe erwähnt, sondern nur die polnischen Geistlichen als Teil der polnischen Intelligenz? Link

 

Beachtenswerte Interviews

Radio Horeb: Interview über die Seligen Märtyrer von Dachau und den heiligen Titus Brandsma, 26. und 27.07.2022 Link

Interviewserie:

Pfarrer Markus Zurl, Gräfelfing Link

Alexander Holzbach SAC, Friedberg Link

Herbert Köhler, Schreinermeister Link

Heinrich Bömeke, Diplom-Ingenieur, Dachau Link

Martin Turban, Diplomtheologe aus Bamberg Link

Monika Volz, Erste Vorsitzende des Vereins, Verwaltungsbeamtin, Dachau Link

 

Radio Horeb: Interview mit Monika Neudert im Tagesgespräch am 30.07.2020

Podcast zur Verfügung gestellt. Link

 

 

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Verein Selige Märtyrer von Dachau e. V.

 



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