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Biografie über Pfarrer Jean Daligault
Biografie über Pfarrer Jean Daligault
von Klemens Hogen-Ostlender
Jedes Mal, wenn der neue Pfarrer von Villerville, Jean Daligault, seine Kirche betrat, wurde er an das Schicksal eines Blutzeugen für Christus erinnert.
Thomas Jean Monsaint war 214 Jahre zuvor in dem Städtchen an der normannischen Küste in dem 1939 immer noch existierenden Taufstein getauft worden.
Monsaint wurde Priester und fiel 1792 während der Schreckensherrschaft der Revolution in Paris den berüchtigten Septembermorden zum Opfer. 1926 wurde er seliggesprochen. Monsaint bedeutet „Mein Heiliger“.
Pfarrer Jean Daligault schloss sich 1940 einer Widerstandsgruppe gegen die deutschen Besatzer an. War es ihm bewusst, dass ihn einmal ein ähnliches Schicksal mit dem seligen Priester verbinden würde?
Sein Leidensweg macht deutlich: Unmenschliche Behandlung gab es nicht nur im KZ. Gegner der Nationalsozialisten wurde schon im Gefängnis nicht mit Samthandschuhen angefasst – zumal, wenn er ein Priester war, der sich auch noch für Geheimnisse des Regimes interessierte.
Pfarrer und Künstler
Am 10. Juni 1899 hatte Daligault im nahe gelegenen Caen das Licht der Welt erblickt - „mit einem Fuß in einem Jahrhundert und mit einem Zeh im nächsten“, wie er später einmal sagte.
Schon auf der Schule entdeckte ein Zeichenlehrer die künstlerische Begabung des Jungen. Nach dem Abitur entschloss sich Jean Daligault trotz seiner Begeisterung für die Kunst, seiner geistlichen Berufung zu folgen.
Er trat in das Priesterseminar von Bayeux ein.
Im Ersten Weltkrieg wurde er als 18-Jähriger einberufen. Drei Jahre nach Kriegsende nahm er 1921 sein Studium wieder auf und wurde 1924 zum Priester geweiht.
Nach seinem Wirken als Vikar und dann als Pfarrer in verschiedenen Gemeinden der Region, kam er nach Villerville.
Mit dem Nationalsozialismus war er bereits bei einer Reise nach München, Köln und Nürnberg in den dreißiger Jahren in Kontakt gekommen.
Der Jubel über die NS-Propaganda erschreckte ihn.
Kurz vor dem deutschen Überfall auf Frankreich wurde Jean Daligault im Januar 1940 erneut einberufen, kehrte aber nach der französischen Kapitulation im August zum priesterlichen Dienst nach Villerville zurück.
Widerstand
Der Pfarrer fand bald Kontakt zum Lehrer Joseph Blanchard und dem Cafébesitzer Louis Maussant, die der neugebildeten Armée des Volontaires (Freiwilligenarmee) angehörten. Haupttätigkeit dieser Vereinigung waren das Ausforschen der Besatzungstruppen, von Fabriken, die für die Deutschen arbeiteten und das Verteilen einer Untergrundzeitung.
Der Engländer John Hopper unterhielt Verbindungen zur Résistance und zum britischen Geheimdienst. Was genau die Rolle des Pfarrers von Villerville war, ist unklar.
Ein deutsches Gericht fand später jedenfalls keine Handhabe, ihn zu verurteilen.
Seine künstlerischen Ambitionen vergaß Jean Daligault auch unter der deutschen Besatzung nicht. Er übte sich auch in Ölmalerei, Aquarellisieren sowie im Holzschnitt und schuf Skulpturen.
Als Pfarrer war er ungewöhnlich für die damalige Zeit. Er filmte geistliche Aktivitäten seiner „Schäfchen“, spielte Theater mit einer Gruppe von Jugendlichen und legte viel Wert auf die sozialen Aspekte des Glaubenslebens.
Nacht und Nebel
Die deutsche Spionageabwehr kam im Sommer 1941 auf die Spur seiner Widerstandsgruppe.
Am 31. 08.1941 wurden Jean Daligault und seine beiden Freunde verhaftet und zunächst in ein Gefängnis im Raum Paris verlegt.
Bereits dort begann die Folter. Der Häftling wurde brutal verhört. Man schlug ihm die Zähne aus.
Pfarrer Daligault kam bald in ein die geschlossene Abteilung eines psychiatrischen Krankenhauses, wo die deutsche Abwehr ihn „in die Mangel“ nahm.
Im Juni 1942 wurden alle drei Gefangenen als „Nacht- und Nebel-Häftlinge“eingestuft. Nacht und Nebel („nuit et brouillard“war die fast poetisch anmutende französiche Bezeichnung dieser brutalen menschenverachtenden Praxis) war der von den Nationalsozialisten selbst intern verwendete Begriff für die von Adolf Hitler angeordneten „Richtlinien für die Verfolgung von Straftaten gegen das Reich oder die Besatzungsmacht in den besetzten Gebieten“.
Der Name sollte symbolisieren, dass das Schicksal der betreffenden Häftlinge sich in Nacht und Nebel der Geschichte verlieren sollte.
Fast 7000 Menschen wurden bei der Aktion aus Frankreich, Belgien, Luxemburg, den Niederlanden und Norwegen nach Deutschland verschleppt und dort heimlich abgeurteilt. Auch bei erwiesener Unschuld blieben sie aber in Haft, ohne dass die Angehörigen irgendwelche Auskünfte erhielten.
Ihr spurloses Verschwinden sollte der Abschreckung dienen. Der Erlass wurde nach Kriegsende als Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit eingestuft. Am 10. Oktober 1942 wurden Jean Daligault, Joseph Blanchard und Louis Maussant nach Deutschland verschleppt.
Zwei Monate Bunker
Dort war das KZ-gleiche SS-Sonderlager Hinzert bei Trier für fünf Monate die erste Station einer nicht enden wollenden Tortur, in den „Trierer Jahren“.
Dort erlebte er die schlimmste Zeit - Schrecken pur - erfüllt mit Hunger, Frost, Steinbrucharbeit, Prügeln, weiterer Folter, Tyrannei und dem Miterleben zahlreicher Morde an Kameraden.
In den „regulären“ Gefängnissen Wittlich und Trier waren die Haftbedingungen später weniger brutal. Als erstes wurde Jean Daligault in Hinzert für etwa zwei Monate in Einzelhaft in den trotz des nahenden Winters ungeheizten "Bunker" gesperrt.
Über seine danach folgende Zeit im Lager berichtete der Mitgefangene Serge Croix, dass der Pfarrer während der Mahlzeiten gezwungen wurde, Gebete zu singen statt seine Essensration zu sich zu nehmen.
Er lebte von Teilen der Brotrationen, die andere Häftlinge für ihn aufsparten. Er musste sie in Wasser einweichen, weil er keine Zähne mehr hatte.
Jean Daligault schuf während seiner Haft Zeichnungen und Skulpturen, die noch heute über die Zustände in den Lagern Zeugnis ablegen.
Einem Mithäftling kam sein Schaffensdrang vor, als wäre van Van Gogh in Hinzert eingekerkert.
Der Luxemburger ´Künstler Lucien Wercollier, der ebenfalls im Sonderlager eingekerkert war, erhielt von Daligault zum Dank für Nahrungsmittel eine aus einem Suppenknochen geschnitzte Skulptur, die eine der üblichen Foltermethoden zeigte: Zwei Häftlinge wurden an den Handgelenken zusammen gefesselt und mussten Rücken an Rücken in Wind und Wetter im Freien stehen.
Wercollier gelang es, dieses Schnitzwerk zu verstecken und zu bewahren. Er schuf später sein großformatiges Werk „Le prisonnier politique“ („Der politische Gefangene) nach Daligaults Skulptur.
Der Künstler-Pfarrer nutzte in Lager alle ihm zur Verfügung stehenden Hilfsmittel: Bettbretter, Hockerbeine, Zeitungsfetzen, Rost von Rohren, Holzsplitter, Seife, Strohhalme und sogar seine Suppe. Seine Farben stellte er aus Kalk oder Schimmel her, die er von den Wänden seiner Zelle geschabt hatte.
„Er produziert seine Werke mit den Mitteln, die ihm zur Verfügung stehen, also mit nichts“, sagte ein Leidensgenosse, der hinzufügte,
“Daligault berührte die nationalsozialistische Barbarei an ihrem schwachen Punkt: dem Zeugnis.
Er war David gegen Goliath“.
Volksgerichtshof
Kälte und Essensentzug verschlimmerten die schwere Tuberkulose noch, die der Häftling sich in französischen Gefängnissen bereits zugezogen hatte.
Ihm und seinen beiden Freunden stand ein Prozess vor einem Sondergericht bevor.
Der musste wegen Bombengefahr mehrmals an einen anderen Ort verlegt werden.
Jean Daligault lernte so die Gefängnisse Trier, Wittlich und den Kölner „Klingelpütz“ kennen. Ab dem 8. September 1943 war das Trio wieder in der Trierer Anstalt.
Es musste aber noch bis zum 29. November 1943 auf ihr Verfahren vor dem 2. Senat des Volksgerichtshofs warten.
Das Gericht verhängte gegen Joseph Blanchard und Louis Maussant die Todesstrafe, was es allein in Trier in den Kriegsjahren rund 200 Mal tat.
Beide wurden am 15. Februar 1944 im Klingelpütz mit dem Fallbeil hingerichtet.
Gegen Jean Daligault aber gab es kein Urteil.
In der erhalten gebliebenen Anklageschrift werden schwere Vorwürfe gegen ihn erhoben. In der Urteilsbegründung sucht man seinen Namen aber vergeblich.
Waren die „Beweise“ sogar dem NS-Gericht zu dünn?
Der Künstler-Pfarrer aber hat auch seinen fünf Richtern künstlerisch die Maske vom Gesicht gezogen, sie in einer holzschnittartigen Miniatur bloßgestellt samt Hakenkreuz am linken Ärmel und kantiger Raubvogel-Physignomie.
Dieses Kunstwerk blieb wie viele andere der Nachwelt erhalten.
„Getreu“ den Nacht und Nebel-Richtlinien blieb der Schwerkranke auch ohne Urteil in Haft.
Auch mit Billigung des Gefängnispersonals war er weiter künstlerisch tätig.
Während seiner Gefangenschaft, vor allem in Trier, hatte er nie aufgehört zu zeichnen.
Der katholische Gefängnispfarrer, Nikolaus Jonas, versorgte ihn mit Arbeitsmaterial. Ihm vertraute der geschundene Häftling mehr als 150 Zeichnungen und Gemälde an.
Nach dem Krieg übergab Jonas die Sammlung Abbé de la Martinière, der selbst ein NN-Deportierter war.
Zahlreiche Werke sind heute in Museen in Besançon und Caen ausgestellt.
Kritiker äußerten sich begeistert:
„Dieser atypische Priester raubt uns den Atem“ und
„Die markante Ikonographie offenbart einen unvergesslichen Mann Gottes“.
Dachau
Ein dreiviertel Jahr nach seinem Prozess kam der Pfarrer von Villerville im August 1944 ins Zuchthaus München-Stadelheim, das seine letzte Station vor dem KZ Dachau werden sollte.
Vor der Anstalt erinnert heute ein Mahnmal daran, dass dort von 1934 bis zum Kriegsende 1188 Menschen unter dem Fallbeil starben.
Das aber war nicht das Schicksal Jean Daligaults, weil gegen ihn kein amtliches Todesurteil vorlag.
Dieser Umstand rettete ihn nach nationalsozialistischer Logik allerdings nicht vor dem Tod. Der sollte im Konzentrationslager Dachau „erfolgen“.
Dass Daligault dort eingeliefert und noch am selben Tag ermordet wurde, steht fest.
Darin sind sich alle Angaben einig.
Über das Datum seines Todes machen Sekundärquellen jedoch ganz unterschiedliche Aussagen, ohne allerdings jemals zu nennen, woher sie sie haben.
Die Angaben reichen vom 20. März, den der ebenfalls in Dachau inhaftierte deutsche Pfarrer Hugo Pfeil als eine Möglichkeit angab, bis zum oft genannten 28. April, dem Tag vor der Befreiung des KZ.
Weder die Arolsen Archives noch das Archiv der Gedenkstätte in Dachau selbst haben jedoch Unterlagen über den genauen Todestag.
Kurz vor Kriegsende herrschten im KZ Dachau schon chaotische Zustände.
Die Akten des Zuchthauses Stadelheim, die ins Staatsarchiv München ausgelagert wurden, halten aber zumindest minutiös fest, dass Jean Daligault am 16. März 1945 um 10.30 Uhr von der Gestapo aus Stadelheim abgeholt wurde.
Das war genau zwei Wochen vor Gründonnerstag.
Gestapo-Häftlinge wurden üblicherweise erst einmal im „Hausgefängnis“ der Dienststelle im Wittelsbacher Palais in der heutigen Brienner Straße gebracht.
Das war zu diesem Zeitpunkt ziemlich überfüllt.
Für die Gestapo wäre es unsinnig gewesen, sich mit einem zur Exekution im KZ bestimmten Gefangenen unnötig lange zu „belasten“.
Logischer wäre es daher, ihn möglichst schnell seiner „Bestimmung“ zuzuführen.
Zum Beispiel am Dienstag, dem 20. März 1945. Das ist der Tag, den Pfarrer Pfeil nannte.
Für diesen Tag spricht auch, dass es am Rand von Jean Daligaults Geburtsurkunde wohl kurz nach dem Krieg vermerkt wurde.
Wenn das tatsächlich so war, starb der Pfarrer von Villerville zehn Tage vor dem Karfreitag jenes Jahres.
Das letzte Geräusch, das er hörte, war wohl das Durchladen der Pistole, die ein SS-Mann ihm ins Genick drückte.
Der ausgemergelte schwerkranke Häftling wurde eines von unzähligen Opfern eines Regimes, das neben dem Tod von rund elf Millionen Juden nach seinem „Endsieg“ auch die Ausrottung von 30 Millionen Christen geplant hatte.
Ob Jean Daligault in seinen letzten Augenblicken dieses Lebens an den seligen Pfarrer Thomas Jean Monsaint dachte? Wir wissen es nicht.
Mangelnde Zeugnisse seiner Mitgefangenen über das Glaubensleben Daligaults sind auch der Grund dafür, dass nie ein Seligsprechungsverfahren für den Künstlerpfarrer eröffnet wurde.
Zur Anerkennung als Blutzeuge für Christus gehört aber nicht nur die Tötung aus Hass auf den Glauben, sondern auch die Haltung, dass der Märtyrer sein Leben bewusst in der Nachfolge Christi zum Opfer bringt.
Den überlebenden Mitgefangenen des Pfarrer von Villerville waren spirituelle Belange möglicherweise weniger wichtig, weshalb sie darüber nichts berichteten.
Wäre Jean Daligault länger Häftling im Priesterblock im KZ Dachau gewesen, wäre er vielleicht zur Ehre der Altäre erhoben worden.
Quellen:
https://de.wikipedia.org/wiki/Jean_Daligault
https://kulturdb.de/einobjekt.php?id=29145 https://gefaengnisseelsorge.net/haeftling-jean-daligault
http://www.kunst-und-kultur.de/index.php?Action=showMuseumExhibition&aId=439
https://archives.calvados.fr/page/jean-daligaulthttps://www.ouest-france.fr/normandie/jean-daligault-des-dessins-doutre-tombe-3369189
https://rpb.lbz-rlp.de/cgi-bin/wwwalleg/srchrnam.pl?db=rnam&recnums=0011457
https://www.lepredauge.com/jean-daligault
https://www.revue-christus.com/article/l-abbe-jean-daligault-1018
https://de.wikipedia.org/wiki/Wannseekonferenz#Die_Entscheidung_zum_Holocaust
https://de.wikipedia.org/wiki/Generalplan_Ost
https://stevemorse.org/dachau/dachau.html
http://newsaints.faithweb.com/martyrs/Nazis2.htm
Gedruckte Quellen:
L´Abbé Jean Daligault – Un peintre dans les camps de la mort. Christian Dorrière, Edition du Cerf, Paris, 2001
Wenn Hitler den Krieg gewonnen hätte. Ralph Giordano, Rasch und Röhring Verlag, Hamburg, 1989
Recherchiert haben außerdem:
Arolsen Archives
Archiv der Gedenkstätte Dachau
Bayerisches Statsarchiv (Aktenbestand der JVA Stadelheim)
Bildtext: Dieses Selbstportrait schuf Jean Daligault im Gefängnis von Trier am 22.Mai 1944, dem Montag vor Pfingsten. Copyright: Musée de la Résistance et de la Déportation de Besançon - France